Goggia gewinnt die Abfahrt von St. Moritz mit frisch operierter Hand. Sie betreibt seit Jahren Raubbau an ihrem Körper. Und sie sagt, Angst müsse man umarmen.
Remo Geisser, St. Moritz
4 min
Sie ist die beste Abfahrerin der Welt. Wenn sie am Start steht, kann sie sich oft nur selbst schlagen. Denn sie greift immer mit vollem Risiko an, geht immer wieder über ihre Grenzen hinaus. Sie selbst nennt das «Goggia-Style», es ist spektakulär und oft atemberaubend. Und immer mal wieder des Guten zu viel. Dann crasht Sofia Goggia so spektakulär, wie sie fährt. Macht nichts: zusammenflicken und wieder volles Rohr die Piste runter. Wie das geht, hat die Italienerin dieser Tage wieder im Engadin demonstriert.
Am Freitag fuhr sie bei miserabler Sicht ohne jede Sicherheitsmarge, knallte schon beim dritten Tor mit der linken Hand in die Stange, hasardierte weiter den Berg runter: Rang 2. Kurz hinter der Ziellinie zeigte sie auf ihre Hand und lieferte gleich die Selbstdiagnose: «Sie ist gebrochen.» Am Nachmittag wurde die 30-Jährige von einem Betreuer nach Mailand gefahren, wo der Operationssaal bereits hergerichtet war, als sie ankam. Vor dem Eingriff hätten sie und das Team gesagt: «Wir tun das, um morgen zu gewinnen», erzählte sie später. Zwei Brüche wurden verschraubt, um 22 Uhr war die Athletin wieder im Teamhotel in St. Moritz.
«Es ist ja nur eine Hand»
Am nächsten Tag machte sie ihre Ansage wahr. Von Zurückhaltung war nichts zu sehen, Goggia fuhr auf der letzten Rille und siegte. Als sie im TV-Interview darauf angesprochen wurde, dass ein Sturz wohl fatale Folgen gehabt hätte, sagte sie: «Ach, es ist ja nur eine Hand.» Und fügte an, seit Peking wisse sie, dass nichts unmöglich sei. Sie meinte damit die Olympiaabfahrt 2022, in der sie Silber gewonnen hatte, obwohl sie nach allen medizinischen Prognosen gar nicht hätte am Start stehen sollen. Aber was sind schon Fachmeinungen, wenn man es mit dem eisernen Willen der Sofia Goggia zu tun hat.
Die Italienerin war schon vor einem Jahr die grosse Dominatorin. Sie kehrte von einer Verletzung zurück und gewann gleich wieder vier von fünf Abfahrten. Die einzige, in der sie nicht zuoberst auf dem Podest stand, beendete sie in den Fangnetzen – Goggia-Style. Fasst man die Zeit von Dezember 2020 bis Januar 2021 zusammen, ergibt das: vier Siege in Serie – Verletzung und Saisonabbruch – drei Siege in Serie – Crash – Sieg – Crash – Spital. Dann begann der Kampf um die Olympiateilnahme. An den Spielen 2018 hatte Goggia bereits Gold in der Abfahrt gewonnen, diesen Triumph wollte sie unbedingt wiederholen.
Vor dem Winter 2021/22 hatte sie in Lake Louise lange über ihre Verletzungen und das Verhältnis zu ihrem Körper gesprochen. Sie kehrte damals in den Weltcup zurück, nachdem sie sich im Januar beim Sturz auf einer Touristenpiste am Knie verletzt und die Heim-WM in Cortina d’Ampezzo verpasst hatte. Goggia war bei schlechter Sicht in einen Schneehaufen gefahren, hatte einen Salto geschlagen und beim Aufprall einen Knall gehört. Sie wusste, dass etwas kaputt war, spürte aber, dass es nicht das schon zweimal zerfetzte Kreuzband war.
Beim ersten Mal hatte man ihr ein Stück Sehne aus dem eigenen Bein eingesetzt, beim zweiten Mal das Kreuzband eines Verstorbenen. «Dieses Knie ist speziell, denn in ihm steckt ein Teil eines anderen Menschen. Das Transplantat hilft mir, meine Ziele zu erreichen, meine Träume zu verwirklichen.» Sie habe deshalb eine sehr emotionale Bindung zu diesem Gelenk.
Als sei sie ein Zombie
Goggia brach sich damals das Schienbeinplateau. Sie verpasste zwar die WM, wollte aber sechs Wochen nach dem Unfall schon wieder im Weltcup starten, es ging noch um den Sieg in der Disziplinenwertung der Abfahrt. Als sie wieder im Training auftauchte, habe sie der Trainer angeschaut, als sei sie ein Zombie. Sie fuhr einen lockeren Lauf im Super-G – und war über eine halbe Sekunde schneller als die Teamkolleginnen.
Also reiste sie zum Weltcup-Finale nach Lenzerheide. Das Wetter war schlecht, das Rennen wurde abgesagt, die Italienerin bekam die kleine Kugel. Im Gespräch neun Monate später gab sie sich überzeugt, dass ihr unbändiger Kampf um das Comeback den Ausschlag gegeben hatte. «Hätte ich aufgegeben, hätte in Lenzerheide die Sonne gestrahlt, Lara Gut-Behrami hätte die Abfahrt gewonnen und damit auch die Kugel.» Auf die Nachfrage, ob sie wirklich glaube, dass sie das Wetter beeinflusst habe, antwortete sie: «Ich wollte diese Kugel so sehr, dass ich wohl zu allem fähig war.»
Ein Jahr später bewies sie, dass sie tatsächlich das scheinbar Unmögliche erreichen kann. Januar 2021, Goggia fährt im Super-G von Cortina d’Ampezzo wieder einmal die Harakiri-Linie, stürzt und erleidet multiple Verletzungen: Teilriss des Kreuzbandes, Stauchung des Knies, kleine Fraktur des Wadenbeins, Läsionen an Muskeln und Sehnen. Saisonende? Nein, Fokus auf das Comeback. Drei Wochen später ist die Italienerin tatsächlich in Peking. Sie fährt in der Abfahrt entfesselt, muss sich am Ende aber doch noch knapp Corinne Suter geschlagen geben. Goggia ist deutlich anzusehen, dass sie vom Märchen träumte und für sie Silber nur ein Trostpreis ist. Aber niemand ausser ihr wäre fähig gewesen, in ihrem Zustand nur schon zu starten.
Diese Woche erzählte sie dem «Blick», wie es war in Peking. Das Risiko sei gross gewesen, sie sei quasi auf einem Bein gefahren. «Damals hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben Angst.» Doch wie sie damit umgeht, hatte sie im November 2021 erläutert: «Angst darfst du nicht verdrängen, du musst sie umarmen. Die beste Medizin gegen die Angst ist die Liebe.» Dem «Blick» sagte Goggia diese Woche auch, sie wünsche sich für einmal eine einfache und gesunde Saison. Das kann sie bereits abhaken. Aber es wäre auch nicht Goggia-Style.
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